Donnerstag, 13. Mai 2010

„Unsere Kritik hat nichts geändert… Es wurde immer schlimmer!“

von Anna-Esther Younes (ersch. Heft 7/Juli 2009)

Amira Hass bei einem InterviewterminDie israelische Journalistin und Autorin Amira Hass berichtet seit Jahrzehnten ausführlich über den Nahost-Konflikt und die israelische Besatzung. 1991 zog sie nach Gaza, 1996 nach Ramallah im Westjordanland, wo sie bis heute lebt.

[dī.wān] Frau Hass, Sie sind nach Berlin gekommen, um bei dem ersten Israelisch-Palästinensischen Filmfestival in Berlin anwesend zu sein. Während dieses Festivals wurde das Theaterstück „MurMure“ (franz. Wortspiel: Mauergeflüster) aufgeführt, in dem es um die Korrespondenz zwischen Ihnen und dem palästinensischen Gefangenen Mahmud al-Safadi geht. Das Stück basiert auf Ihren Tagebucheinträgen, doch Ihre Gefühle und Reaktionen sind gemischt. Warum?

Amira Hass: Zuerst einmal ist es nicht mein Stück. Für meinen Geschmack war nicht genügend „Besatzung“ enthalten und stattdessen viel zu viel Symbolträchtigkeit. Die einzige Person, die die israelische Unterdrückung repräsentierte, war eine Soldatin, was mich auch geärgert hat. Aber ich finde immer noch, dass der Drachen (Anm. d. Red.: Der „Drachen“ verkörpert Amira Hass in dem Stück) zu didaktisch, zu wenig zynisch, zu wenig nuanciert ist. Mein Part in dem Stück ist zu sehr eine Karikatur. Ich hätte eine Tragikomödie bevorzugt.

[dī.wān] Ein israelischer Militärgerichtshof verurteilte Mahmud al-Safadi 1990 zu 17 Jahren Haft. Können Sie uns mehr darüber erzählen?

Amira Hass: Mahmud trat mit 16 Jahren der PFLP (Palästinensische Front für die Befreiung Palästinas) bei. Mit dem Ausbruch der ersten Intifada warf er Molotowcocktails auf israelische Militärfahrzeuge in Jerusalem. Sein Ziel war es zu sabotieren, nicht zu töten. Er wollte zeigen, dass Jerusalem unter Besatzung ist. Im September 2006 wurde er nach 17 Jahren wieder freigelassen. Heute ist er 41 Jahre alt, hat vor kurzem geheiratet und lebt zusammen mit seiner Familie in Ostjerusalem. Wir haben aber keinen Kontakt mehr – er lebt sein Leben, ich lebe meins.

[dī.wān] Frau Hass, Ihre Eltern sind Holocaust-Überlebende. Ist Deutschland für Sie ein spezielles Reiseziel oder ein Land wie jedes andere auch?

Amira Hass: Der Holocaust ist immer bei jedem meiner Aufenthalte im Hintergrund – und Vordergrund. Hinzukommt, dass ich in meinen Reden und Interviews niemals von „Holocaust“ spreche, da das Wort die Betonung allein auf die Opfer richtet. Ich rede eher von der „deutschen Tötungsindustrie“, was die Betonung auf die Täter legt. Und eigentlich ist es für mich auch wichtiger, über die Geschichte meiner Eltern in Israel zu reden als über Deutschland. Der Grund dafür ist, dass der Judeozid von der israelischen Rechten komplett enteignet und monopolisiert wurde. In Deutschland ist es für mich weniger relevant, darüber zu reden, als in Israel.

[dī.wān] Wie betrachtet die palästinensische Gesellschaft das Thema?

Amira Hass: Mahmud beispielsweise fragte nach dem Tagebuch meiner Mutter aus Bergen-Belsen. Durch einige meiner Texte hat er realisiert, dass man Israel nicht nur als koloniales Phänomen und losgelöst vom Judeozid sehen kann. Während er im Gefängnis saß, lernte er zwei Dinge durch meine Zeitungsartikel: Kollaboration mit den Nazis geschah in allen Schichten der deutschen Gesellschaft, die Teil an der Mörderindustrie hatte. Weiter gab es viele Menschen, die daraufhin als Flüchtlinge nach Palästina kamen. Was viele von ihnen erfahren mussten, nachdem sie aus den Konzentrationslagern in ihre Heimatländer zurückkehrt waren, war, dass sie dort oftmals nicht erwünscht waren. Man könnte sagen, dass das für Mahmud ein großer Schock war. Im Gefängnis war er freier, anders zu denken. Ironischerweise war dies nur im Gefängnis möglich, da hier der Druck der Gesellschaft und der Sozialisierung nicht so stark ist. In der palästinensischen Gesellschaft wird dieses Denken noch nicht akzeptiert.

[dī.wān] Warum glauben Sie, ist es so schwer, über den Holocaust unabhängig von der Besatzung in Israel und Palästina zu sprechen?

Amira Hass: Zuerst einmal weil der Holocaust in Israel manipuliert wird, aber auch weil der Holocaust dem Phänomen Israel eine neue Dimension gibt, die man nicht nur als kolonial abtun kann. Palästinenser zeigen normalerweise eine dreifache Reaktion: 1. Wenn es wirklich geschah, dann geschah es, 2. weil die Juden es verdient haben, und 3. tun sie heute dasselbe. Das ist natürlich eine Karikatur, ich weiß, aber es kommt der Wahrheit in verkürzter Form nahe. Und das ist genau der Grund, warum es so schwer ist, das Problem der israelischen Unterdrückung zu diskutieren. Man ist niemals frei, eigenständig und mit eigenen Worten die Realität zu beschreiben – es gibt immer zusätzlichen Lärm.

[dī.wān] Frau Hass, im Jahre 2000 wurde Ihnen der „World Press Hero Award“ verliehen. Sie kommentierten dies einem palästinensischen Freund gegenüber mit den Worten: „Es ist so gefährlich, mit Euch zu leben, dass sie mir den Hero Award verleihen.“ Offensichtlich waren Sie zynisch.

Amira Hass: Der Grund für mich, zynisch zu sein, liegt in der Tatsache, dass ich nicht für das anerkannt werde, was ich schreibe und aufdecke, sondern für die unterstellte Gefahr, mit Palästinensern zu leben. Das Absurde jedoch ist, dass selbst heute während der Intifada die meisten Bedrohungssituationen, die ich bisher erfuhr, im Zusammentreffen mit Siedlern, israelischen Raketen und Panzern bestanden. Und Israelis fragen mich tatsächlich immer noch: „Hast du keine Angst, mit Palästinensern zu leben?“, woraufhin ich antworte: „Ich habe eher Angst vor israelischen Kampfflugzeugen“. Aber das wird nicht verstanden.

[dī.wān] Passiert es Ihnen, dass sie die „Vorzeige-Jüdin“ für arabische Medien und kritische Stimmen werden?

Amira Hass: Nein. Eigentlich bin ich viel mehr ein Symbol oder eine „Vorzeige-Jüdin“ für die internationale Audienz. Das soll heißen, dass ich für sie der Beweis bin, wie demokratisch Israel anscheinend ist. Aber diese Leute sollten eines im Kopf behalten, nämlich dass unsere Kritik nichts geändert hat. Eher das Gegenteil war der Fall: Es wurde immer schlimmer!

[dī.wān] Sie weisen auf einen wichtigen Punkt im Rahmen von kritischem und investigativem Journalismus hin. Können Sie, abgesehen von Ihrer Hilflosigkeit als Individuum, trotzdem noch Zufriedenheit und Befriedigung aus Ihrer Arbeit schöpfen? Haben Sie das Gefühl, etwas erreicht zu haben, dass Ihre Arbeit sich in eine Richtung bewegt?

Amira Hass: Na ja, es ist nicht unbedingt so, dass ich irgendwo hingehe. Es ist vielmehr so, als würde ich von etwas weggehen. Trotzdem fühlt es sich an, als würde ich konstant angetrieben werden. Aber es ist niemals befriedigend. Es gibt nur ein paar Momente in meiner Arbeit, wo ich ein solches Gefühl der Befriedigung bekomme, zum Beispiel bei einer guten Berichterstattung oder einer Passiererlaubnis für Palästinenser. Aber diese Errungenschaften halten nicht lange an. Wenn ich auf meine 15 Jahre als israelische Journalistin zurückschaue, realisiere ich, dass Dinge immer schlimmer geworden sind. Daher kann von Befriedigung nicht wirklich die Rede sein. Tatsächlich habe ich zurzeit in Bezug auf den jahrelangen Wert meiner Arbeit als Korrespondentin in den besetzten Gebieten eher das Gefühl, in einer Existenzkrise zu sein. Ich denke zum Beispiel, dass Menschen generell Bewegungsfreiheit unterschätzen. Daher fühlt es sich zurzeit nicht so an, als würde meine Arbeit irgendwohin steuern. Die Situation wird nur schlimmer.

[dī.wān] Die letzte Frage, Frau Hass: Die meisten Journalisten, die in Ihrem Bereich arbeiten, werden irgendwann zu Kettenrauchern. Warum rauchen Sie nicht?

Amira Hass: (lacht). Als ich 15 Jahre alt war, wurde ich wegen einer linken Aktion festgenommen. Die Polizei packte uns ins Gefängnis. Ich war mit anderen Aktivisten in einer Zelle und alle von ihnen rauchten wie Schlote. Ich dachte, wenn ich schon alt genug bin, um eingesperrt zu werden, dann bin ich auch schon alt genug, zu rauchen. Es endete damit, dass ich volle 28 Stunden ohne Unterlass rauchte. Letztlich war es so ekelhaft, dass ich niemals wieder eine Zigarette anfasste.

Das Interview wurde im Mai 2008 während des ersten Israelisch-Palästinensischen Filmfestivals in Berlin geführt.

Quelle: http://diwan-berlin.de/zeitschrift/?p=268

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